Wesentliche Sachverhalte zur insolvenzrechtlichen Fortbestehensprognose nach der Neufassung des § 19 InsO

Der Fortbestehensprognose kommt im Rahmen der Überschuldungsprüfung eine wesentliche Bedeutung zu, da seit Inkrafttreten des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (FMStG) am 18.10.2008 die modifizierte zweistufige Methode der Überschuldungsprüfung anzuwenden ist.
In § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO n.F. ist die Überschuldung seit dem 01.01.2021 wie folgt definiert: 1

„Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“

Für das Geschäftsjahr 2021 bzw. für den Zeitraum vom 09.11.2022 bis 31.12.2023 war gemäß § 4 des Gesetzes zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen (Sanierungs- und insolvenzrechtliches Krisenfolgenabmilderungsgesetz – SanInsKG) im Hinblick auf den Prognosezeitraum folgendes zu beachten:

(1) „Abweichend von § 19 Absatz 2 Satz 1 der Insolvenzordnung ist zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 31. Dezember 2021 anstelle des Zeitraums von zwölf Monaten ein Zeitraum von vier Monaten zugrunde zu legen, wenn die Überschuldung des Schuldners auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen ist. Dies wird vermutet, wenn

  1. der Schuldner am 31. Dezember 2019 nicht zahlungsunfähig war,
  2. der Schuldner in dem letzten, vor dem 1. Januar 2020 abgeschlossenen Geschäftsjahr ein positives Ergebnis aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit erwirtschaftet hat und
  3. der Umsatz aus der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit im Kalenderjahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 30 Prozent eingebrochen ist.


(2) In dem Zeitraum vom 9. November 2022 bis einschließlich 31. Dezember 2023 tritt an die Stelle des in

  1. § 19 Absatz 2 Satz 1 der Insolvenzordnung genannten Zeitraums von zwölf Monaten,
  2. § 270a Absatz 1 Nummer 1 der Insolvenzordnung genannten Zeitraums von sechs Monaten und
  3. § 50 Absatz 2 Nummer 2 des Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetzes genannten Zeitraums von sechs Monaten


ein Zeitraum von vier Monaten. Satz 1 gilt auch, wenn vor dem 9. November 2022 eine Überschuldung nach § 19 Absatz 2 Satz 1 der Insolvenzordnung vorlag, es sei denn, dass der für eine rechtzeitige Antragstellung maßgebliche Zeitpunkt nach § 15a Absatz 1 Satz 1 und 2 der Insolvenzordnung bereits verstrichen ist.

Bis zum 31.12.2020 war der Prognosezeitraum nicht zeitlich festgelegt. In § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO a.F. war die Überschuldung wie folgt definiert: 2

„Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“

In der Praxis wurde bei der Prüfung der Fortbestehensprognose i.d.R. das laufende und das folgende Geschäftsjahr betrachtet (sh. hierzu u.a. IDW S 11, Stand 22.08.2016).

Die Fortbestehensprognose stellt einen wesentlichen Kernpunkt der Überschuldungsprüfung dar, weil seit Inkrafttreten des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (FMStG) am 18.10.2008 mit einer positiven Fortbestehensprognose die Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung wegfällt. Aus diesem Grund bedarf die Fortbestehensprognose einer detaillierten und sorgfältigen Erstellung.

Die Fortbestehensprognose soll ein wertendes Gesamturteil über die Lebensfähigkeit des Unternehmens in der vorhersehbaren Zukunft wiedergeben. 3

Sie ist im Grunde eine Liquiditäts- bzw. Zahlungsfähigkeitsprognose, die eine Aussage dazu ermöglicht, ob vor dem Hintergrund der getroffenen Annahmen und der daraus abgeleiteten Auswirkungen auf die zukünftige Ertrags- und Liquiditätslage ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, die im Planungshorizont jeweils fälligen Verbindlichkeiten bedienen zu können.

Die Liquiditätssicherung muss durch einen Finanzplan nachgewiesen werden. Dieser Finanzplan sollte auf einem aussagekräftigen und plausiblen Unternehmenskonzept basieren. 4 Aus dem Ergebnis des Finanzplans ist die Fortbestehensprognose abzuleiten. 5

Von einer positiven Fortbestehensprognose kann dann ausgegangen werden, wenn die Fortführung des Unternehmens überwiegend, d.h. zu mehr als 50 %, wahrscheinlich ist. Es muss mehr für als gegen ein Fortbestehen des Unternehmens sprechen. 6
Die positive Fortbestehensprognose ist dabei im Wesentlichen abhängig von der mittelfristigen Finanzkraft des Unternehmens. So heißt es im Gesetzentwurf zum FMStG (Bundestagsdrucksache 16 / 10600 vom 14.10.2008) 7 :

„Künftig wird es deshalb wieder so sein, dass eine Überschuldung nicht gegeben ist, wenn nach überwiegender Wahrscheinlichkeit die Finanzkraft des Unternehmens mittelfristig zur Fortführung ausreicht.“

Für eine positive Fortbestehensprognose muss die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit innerhalb des Prognosezeitraums wahrscheinlicher sein als der Eintritt einer Zahlungsunfähigkeit.
Demzufolge kann eine insolvenzrechtliche Fortbestehensprognose nicht positiv ausfallen, wenn zum Bewertungsstichtag drohende oder gar eingetretene Zahlungsunfähigkeit vorliegen.

In diesem Zusammenhang führte der BGH im Urteil vom 19.11.2019 – II ZR 53/18 Rn. 27 folgendes aus 8:

„Die drohende Zahlungsunfähigkeit schließt aber objektiv eine positive Fortbestehensprognose der Gesellschaft im Sinne des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO aus.“

Hinsichtlich der drohenden Zahlungsunfähigkeit ist dabei auf die Zeiträume zu achten.
Mit der Festlegung des Prognosezeitraums bei der Überschuldung auf zwölf bzw. vier Monate wurde ab dem 01.01.2021 eine Abgrenzung zwischen der Überschuldung und der drohenden Zahlungsunfähigkeit (Prognosezeitraum laut § 18 Abs. 2 S. 2 InsO in aller Regel 24 Monate) vorgenommen, wobei es im Vier- bzw. Zwölf-Monatszeitraum bei einer Überschneidung bleibt.

Zusammenfassend kann im Hinblick auf die Fortbestehensprognose konstatiert werden, dass die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens die maßgebliche Voraussetzung für eine positive Fortbestehensprognose darstellt. Eingetretene oder drohende Zahlungsunfähigkeit am Bewertungsstichtag schließen eine positive Fortbestehensprognose aus.


Liquiditätslage am Bewertungsstichtag als Ausgangspunkt für die Beurteilung der insolvenzrechtlichen Fortbestehensprognose

Zur Beurteilung der insolvenzrechtlichen Fortbestehensprognose ist die tatsächliche Liquiditätslage des Unternehmens zum Bewertungsstichtag festzustellen. Eingetretene oder drohende Zahlungsunfähigkeit am Bewertungsstichtag schließen, wie oben dargestellt, eine positive Fortbestehensprognose aus.

Liegt weder eingetretene noch drohende Zahlungsunfähigkeit am Bewertungsstichtag vor, sind, aufbauend auf der Ist-Liquiditätslage, für den Planungshorizont alle Möglichkeiten der künftigen Liquiditätsgenerierung in Betracht zu ziehen.

Tatsächlich darf allerdings nur solche (potentielle) Liquidität berücksichtigt werden, mit deren Realisierung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gerechnet werden kann.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Fortführungsfähigkeit des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich sein muss. Von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Fortführungsfähigkeit ist nach herrschender Meinung dann auszugehen, wenn diese Wahrscheinlichkeit bei mehr als 50 % liegt. 9 Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit der Fortführungsfähigkeit größer sein muss als die Wahrscheinlichkeit der Nichtfortführungsfähigkeit.
Die überwiegende Wahrscheinlichkeit ist dabei unter dem Aspekt der Realisierbarkeit des Unternehmenskonzeptes und der damit verknüpften integrierten Planung zu verstehen. Die entscheidende Frage lautet somit:

Wie wahrscheinlich ist der Eintritt der der Finanzplanung zugrundeliegenden Annahmen und Prämissen?
Da dies weder mathematisch noch statistisch exakt bestimmt werden kann, muss vielmehr die Plausibilität im Vordergrund stehen.
Es muss somit plausibel erklärt werden können, warum die größere Wahrscheinlichkeit bei der Fortführung des Unternehmens liegt.

Bei der Erstellung bzw. Überprüfung der Fortbestehensprognose in der ex-post-Betrachtung ist zu beachten, dass das ex-post-Wissen nicht in die Beurteilung miteinfließen darf. Die Fortbestehensprognose muss aus ex-ante-Sicht erstellt bzw. geprüft werden. Der Ersteller / Prüfer der Fortbestehensprognose muss sich in die Lage der seinerzeitigen Situation der Gesellschaft versetzen. 10

Zur Feststellung der Ist-Liquiditätslage am Bewertungsstichtag sind den verfügbaren Zahlungsmitteln (Bargeld, Schecks, Bankguthaben, freie Kreditlinien) die fälligen und bereits rückständigen Zahlungsverpflichtungen gegenüberzustellen.

Aufbauend auf der festgestellten Ist-Liquiditätslage ist die Entwicklung der Liquiditätslage dann für den Prognosezeitraum zu prognostizieren. Basis dieser Finanzplanung bildet ein aussagekräftiges und plausibles Unternehmenskonzept.

In die Prognose der Zahlungsfähigkeit sind alle Komponenten einzubeziehen, die sowohl die Innen- als auch die Außenfinanzierung betreffen.
Die Innenfinanzierung umfasst dabei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwartende Überschüsse aus dem operativen Geschäft, aber auch sonstige Maßnahmen wie: 11

  • Reduzierung des Working Capital
  • Abbau von Anlagevermögen, soweit dies nicht zu einer Beeinträchtigung des Geschäftsbetriebs führt
  • Abbau von Vorräten
  • Intensivierung des Forderungsmanagements


Die Außenfinanzierung umfasst z.B. folgende Komponenten:

  • Ausweitung der Kreditlinie durch die Hausbank
  • Gewährung langfristiger Darlehen durch die Hausbank
  • Gewährung von Gesellschafterdarlehen
  • Kapitaleinlagen
  • Ratenzahlungs- und / oder Stundungsvereinbarungen mit Lieferanten
  • Forderungsverzichte


In Bezug auf Liquidität, die aus Maßnahmen der Kapitalbeschaffung resultiert, beispielsweise durch Darlehensaufnahme, ist ein entsprechender Nachweis erforderlich, dass das Unternehmen die Kreditmittel tatsächlich am Finanzmarkt erhalten kann. 12
Weiterhin sind unter den Zahlungsmitteln Beiträge der Gesellschafter, beispielsweise durch Zuführung von neuem Eigenkapital, zu berücksichtigen. Auch diesbezüglich muss eine verbindliche Zusage vorliegen. 13
Geldwerte Vermögensgegenstände können ebenso Zahlungsmittel darstellen, welche im Rahmen der Finanzplanung ausgewiesen werden können. 14
Für alle im Finanzplan auszuweisenden Zahlungsmittel muss der Zufluss der liquiden Mittel mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein.

Ebenso wie die Aktivseite der Zahlungsfähigkeitsprognose ist auch die Passivseite zu behandeln. Hier sind alle bestehenden und künftig (im Prognosezeitraum) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit anfallenden und fällig werdenden Verbindlichkeiten zu berücksichtigen.
In der Finanzplanung sind somit neben den voraussichtlich zu erwartenden Zahlungsmitteln sämtliche zu erwartenden Zahlungspflichten zu berücksichtigen. Dabei handelt es sich um alle Zahlungspflichten, die im Prognosezeitraum zur Zahlung fällig werden, sprich die bestehenden und fällig werdenden sowie die neu entstehenden und fällig werdenden Verbindlichkeiten. 15
Hierzu zählen insbesondere Verbindlichkeiten, welche im gewöhnlichen Geschäftsbetrieb anfallen, wie beispielsweise Materialeinkäufe, Kfz-Kosten, Büromaterial etc..
Im Rahmen der Prognose können auch ungewisse oder bestrittene Verbindlichkeiten berücksichtigt werden, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass diese Verbindlichkeiten im Prognosezeitraum bestehen. 16 Die Fälligkeit dieser Verbindlichkeiten muss erst in der Prognosephase eintreten. Zum Zeitpunkt der Prüfung muss die Fälligkeit noch nicht vorliegen.

Unterschiedlich wird die Berücksichtigung von Rückstellungen gesehen. Befürworter argumentieren, dass ein Ansatz gerechtfertigt ist, wenn aus dem jeweiligen Sachverhalt, welcher der Rückstellung zugrunde liegt, eine Verbindlichkeit fällig zu werden droht. Rückstellungen wegen ungewisser Verbindlichkeiten seien aufgrund der Voraussetzung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme auf jeden Fall zu berücksichtigen.

Die Bewertung der im Rahmen der Finanzplanung auszuweisenden Zahlungspflichten erfolgt grundsätzlich zum Nennwert. 17 Für bestrittene oder zweifelhafte Verbindlichkeiten sind Abschläge möglich. Zukünftige Ausgaben sind zu schätzen.

Zusammengefasst sind in der Finanzplanung somit folgende Zahlungsmittel bzw. Zahlungspflichten abzubilden:

Bestandteile der Finanzplanung

[1] § 19 Abs. 2 S. 1 InsO n.F.

[2] § 19 Abs. 2 S. 1 InsO a.F.

[3] Vgl. IDW ES 11 n.F.

[4] Vgl. BGH-Urteil vom 09.10.2006 – II ZR 303/05

[5] Vgl. Mock S. (2015): § 19, in: Uhlenbruck (Hrsg.): Insolvenzordnung, Rn. 212

[6] Vgl. Laroche (2020) § 19, in: Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, Rn. 11

[7] Vgl. BT-Drucksache 16 / 10600

[8] Vgl. BGH-Urteil vom 19.11.2019 – II ZR 53/18

[9] Vgl. Mock S. (2015): a.a.O. (Fn. 4), Rn. 221

[10] Vgl. Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 29.04.2021 – 2-21 O 182/17

[11] Vgl. Aleth, F., Harlfinger, W. (2011): Die Fortführungsprognose i.S. von § 19 II InsO – eine Handlungsanweisung für Geschäftsführer, S. 169, in: NZI 5/2011

[12] Vgl. Mock, S. (2019): § 18, in: Uhlenbruck, W. (Hrsg.): Insolvenzordnung, Rn. 41.

[13] Vgl. Wolfer, H. (2019): § 18, in: Fridgen/Geiwitz/Göpfert (Hrsg.): BeckOK InsO, Rn. 17-20; Mock S. (2019): a.a.O. (Fn. 11), Rn. 39-45..

[14] Vgl. Kadenbach, M. (2017): § 18, in A/G/R (Hrsg.): Insolvenzrecht, Rn. 11; Mock, S. (2019): a.a.O. (Fn. 11), Rn. 42.

[15] Vgl. Drukarczyk, J. (2019): § 18, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Rn. 59.

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